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Ungarn 2011 Lage des Landes und Wahrnehmung im Westen

Vorbemerkungen: 1. Ein Update zu 2012-2016 und Gegenwart ist längst überfällig, doch bleibt diese Seite mit Einschränkungen aktuell. 2. Diese Homepage ist grundsätzlich der Information über den öffentlichen Verkehr Ungarns gewidmet. Vor allem die ungarische Version beschäftigt sich außerdem mit verkehrspolitischen Fragen, insbesondere mit der Gegenwart und Zukunft des öffentlichen Personennahverkehrs im ländlichen Raum. Als (mit)denkender Mensch hat man mitunter das Gefühl, dass es in Ausnahmesituationen angebracht ist, "off topic" ein klares Wort anzubringen - im Sinne von Wahrheit, Redlichkeit, Gerechtigkeit und gesundem Augenmaß.

Der Anlass für diese Seite ist denkbar unerfreulich: Seit Monaten werden wir vor allem im deutschsprachigen Raum Zeugen einer Art Medienkampagne, die die öffentliche Wahrnehmung eines ganzen Landes und seiner Bevölkerung (nicht nur der Regierung und der leitenden Politiker Ungarns) nachhaltig - negativ - beeinflusst. Ich muss sagen, dass wir tatsächlich Probleme haben und häufig ein Kern Wahrheit an den Kommentaren der letzten Monate dran ist. Allerdings ist gerade in sogenannten Qualitätszeitungen Österreichs und Deutschlands die Ungarn-Berichterstattung derzeit eklatant einseitig und reißerisch. Letztlich wird diese Sichtweise weder der Situation gerecht noch ist dieser kampagneartige Verriss eines ganzen Landes hilfreich, wenn es darum gehen soll, echte Probleme anzugehen. Kurz: berechtigte Kritik ja, einseitige und oberflächliche Berichterstattung nein!
Statt einer eigenen längeren Abhandlung möchte ich allen Lesern heute - am 100. Geburtstag eines außergewöhnlichen Politikers namens Bibó István - zwei Links empfehlen: einen Blog und die Wiki-Kurzbiographie von Bibó.

Zu meiner eigenen Ausrichtung nur soviel, dass ich parteipolitisch nicht festgelegt bin und sowohl linke als auch konservative und vor allem "grüne" Werte teile. Insofern geht es mir auf keinen Fall um Parteinahme, sondern was wir derzeit zu lesen und hören bekommen, empfinde ich als zutiefst ungerecht und ungut. Kritik am derzeitigen Regierungskurs bringe ich dort an, wo sie angezeigt ist und hoffentlich auch von den Zuständigen gehört wird. Hier und jetzt geht es mir um die Problematik, dass die gegenwärtige Wahrnehmung ungarischer Angelegenheiten aufgrund einer intensiven Medienkampagne immer weniger mit der tatsächlichen Lage zu tun hat. Kolportiert wird eine Art Karikatur, ein Verriss der tatsächlichen Lage, gebetsmühlenartig wird nur immer die eine Sicht der Dinge wiederholt und herausgestrichen. Eine Zusammenfassung, bevor ich die Links vorstelle:
Die parlamentarische Mehrparteien-Demokratie ist in Ungarn weniger tief verwurzelt als in den westlichen Nachbarländern. Wie in allen ehemaligen Ostblockstaaten wurde sie durch faschistische und kommunistische Regimes unterbrochen. Abgesehen davon kann die Parteienlandschaft in Ostmitteleuropa nur sehr bedingt mit gängigen westeuropäischen Kategorien verglichen werden. Ein wichtiger Umstand ist, dass infolge der Ernüchterung ein paar Jahre nach der Wende fast überall die Nachfolgeparteien der Kommunisten wieder an die Macht gekommen sind. Diese nennen sich meist "Sozialisten", haben aber mit Sozialdemokratie westeuropäischer Prägung, die ja selbst vielerorts verblasst, nicht sehr viel gemeinsam. Inzwischen wird man ihnen auch nicht mehr mit "ex-kommunistisch" gerecht, allerdings entspricht den historischen Tatsachen, dass diese Politiker - die meist eine neoliberale Wirtschaftspolitik betreiben - ihre Machtstellung weitgehend der Beerbung der kommunistischen Partei verdanken. D.h. auf eine Mehrheit dieser "Sozialisten" trifft zu, dass sie oder ihre Eltern bzw. ihre Partei von der Zugehörigkeit zur ehemaligen Nomenklatura, von ihren Beziehungen und vom Parteivermögen der KP profitiert haben. Etliche haben sich geradezu schamlos bereichert - auf rechtlich meist unanfechtbare, aber moralisch umso verwerflichere Weise, und das wirft auch auf jene Ex-Kommunisten und Sozialisten ein schiefes Licht, die in dieser Hinsicht Maß gehalten bzw. die zur Wendezeit einen glaubwürdigen Gesinnungswandel durchgemacht haben. In Ungarn dauerte diese Backlash-Phase von 1994-1998 und nach einem Mitte-Rechts-Intermezzo weiter von 2002 bis 2010.
Drei Umstände sind erwähnenswert: 1. Die ex-kommunistischen Sozialisten haben sich bereits nach dem Wahlsieg 1994 ohne politische Notwendigkeit aus taktischen Gründen mit der kleineren, liberalen Wendepartei liiert, die sich in der Folge von ihren bisherigen politischen Verbündeten distanziert und bis zum Jahr 2010 vollständig aufgerieben hat.
2. Parallel dazu das weltanschauliche Realignment der kleinsten der drei Wendeparteien, der lautstarken und gerne Akzente setzenden Außenseiterpartei Fidesz: Anstelle des bisherigen antiklerikalen jugendlich-liberalen Kurses hat Orbán die Jungdemokraten als Zentrumspartei positioniert. Man schickte sich an, das bürgerlich-konservative Lager zu einen, um in der Folge die größte Wendepartei Demokratisches Forum (ursprünglich nur als Übergangslösung gedacht) zu beerben und auch die breiten Massen der Arbeiter und Angestellten anzusprechen.
3. Die Tatsache der höchst knappen Abwahl der konservativen Regierung im Jahr 2002 ist nicht nur auf den Koalitionspartner Torgyán zurückzuführen (der war tatsächlich ein Rechtspopulist, im Vergleich wirkt Orbán gemäßigt), sondern auch auf ein gewisses Glaubwürdigkeitsproblem (u.a. schiefe Rhetorik und auch Skandale).
Zum Verständnis dieser Umstände und der Parteienlandschaft sollte man sich einen Konflikt vergegenwärtigen, der in der Zwischenkriegszeit zwischen Intellektuellen ausgefochten wurde und der ein Spiegelbild der ungarischen Gesellschaft bzw. politischen Landschaft ist. Schon damals gab es zwei große Lager, die "Volkstümlichen" (népi) und die "Urbanen" (urbánus), die aber nicht wirklich der klassischen Links-Rechts-Aufteilung entsprechen. Im Denken der sogenannten Volkstümlichen waren durchaus viele Werte verankert, die wir als fortschrittlich, liberal und links einstufen würden, neben einem gesunden Nationalismus und einer zum Teil verklärten Sicht des ländlichen Lebens und seiner Werte. Die Urbanen vertraten ebenfalls nationale und teils konservative Werte, ihr Weltbild war aber kosmopolitischer, avantgardistischer ausgeprägt und wie der Name sagt, sie waren eher dem Stadtleben zugetan. Trotzdem lebten viele volkstümliche Intellektuelle in Budapest und diese gesellschaftliche Bruchlinie verlief auch quer durch die Stadtbevölkerung. Zahlreiche große Schriftsteller, Komponisten usw. bekannten sich als "népi" oder "urbánus" oder wurden als solche eingestuft, hatten aber weder mit Parteipolitik zu tun, noch lässt sich ihre politische Überzeugung nachträglich als links- oder rechtsgerichtet kategorisieren. Die heutige Regierungspartei Fidesz ist als Partei weder rechtsextrem noch autoritär, sondern kann eindeutig mit diesem "volkstümlichen" Lager verbunden werden. Der Konflikt schwelte nämlich weiter und flammte nach der Wende wieder auf, indem viele Meinungsführer die alten Positionen bezogen und sich sogar auf damalige Thesen berufen haben. Die ex-kommunistischen Sozialisten und die (Neo/Links)liberalen verkörpern demgegenüber die "urbane" Seite. Die neue Runde dieses Streits bzw. sein parteipolitisches Abbild hat die ungarische Gesellschaft weitgehend polarisiert. Zunächst setzten sich die Urbanen durch mit einer neoliberalen Wirtschaftspolitik gespickt mit Wahlgeschenken und Zugeständnissen in Richtung Wohlfahrtsgesellschaft (wie auch die 1998 vom sozialistischen Ministerpräsidenten Horn im Wahlkampf eingeführte Freifahrt über 65). Zum ersten mal in der Nachwendezeit konnte eine politische Kraft zweimal hintereinander Wahlen gewinnen. Trotzdem erwies sich diese Politik längerfristig als wenig effizient, sie führte - inklusive Korruption, Freunderlwirtschaft und zuletzt Wirtschaftskrise - zu Instabilität, zu einer überbordenden Staatsverschuldung und in der Folge zu mehr Fremdbestimmung durch den Internationalen Währungsfonds und ausländische Wirtschaftsinteressen. Infolge der "Lügenrede von Öszöd" und der zwangsläufigen Repressionen haben sich die "Neo-Urbanen" in der Sicht einer deutlichen Wählermehrheit vollkommen disqualifiziert. Das inzwischen im Parteienbündnis Fidesz-KDNP mehr oder weniger geeinte Gegenlager konnte nach ungarischem Verhältniswahlrecht mit 54% der Stimmen eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erzielen, sie hatten in fast allen Wahlkreisen einschließlich Budapest die Mehrheit und heimsten die Direktmandate ein. Die Liberalen wie auch das Demokratische Forum fielen hochkant aus dem Parlament und lassen seither kaum von sich hören. Die Sozialisten bleiben sehr geschwächt und uneins als stärkste Oppositionspartei (neo/linksliberal mit parteiinternen Plattformen) und Fidesz dominiert (eine Art Zentrumspartei mit einem politischen Mix aus linken und national-konservativ-liberalen Positionen, verbündet mit den Christdemokraten). Neu dazu kamen die konservativ-rechtsnationale Jobbik-Partei, die auch rechtsextrem und antisemitisch gesinnte Aktivisten und Denker mit an Bord hat, sowie die grün-alternative LMP ("Politik kann anders sein"). Letztere konnte auch am Land relativ viele Stimmen sammeln, vor allem gelang es LMP aber in Budapest, einen Gutteil der Stimmen der (Neo)liberalen auf sich zu einen, die dort seit der Wende den Oberbürgermeister gestellt hatten. Die Ökopartei kann weder klar den Urbanen noch den Volkstümlichen zugeordnet werden, verkörpert also für ungarische Begriffe die politische Mitte und ist für beide Lager potenzieller Koalitionspartner.
Zurück zu den Medien: Ich weiß nicht wirklich, was genau im Hintergrund alles gelaufen ist, wie und warum die Westmedien zu ihrem Standpunkt kommen. Was Ungarn betrifft: Nach 4+8 Jahren "sozialliberaler" Regierung und nicht zuletzt aufgrund der ex-kommunistischen alten Seilschaften, die auch im Medienbereich aktiv sind, war ein "linksliberaler" Drall in der ungarischen Medienlandschaft inklusive Öffentlich-Rechtliche nicht abzuleugnen und nach dem Regierungswechsel wurde dieser linksliberale Einfluss klarerweise zurückgedrängt. Einige Meinungsführer des neo/linksliberalen Lagers verfügen über sehr gute Auslandskontakte und dürften diese nun nutzen, um im Westen gezielt und ausschließlich ihre Sichtweise zu etablieren, teilweise auch mit Hilfe von gezielter Desinformation und Falschmeldungen. Insider im Bekanntenkreis bestätigen mir, dass die Kommunikationsarbeit von Fidesz einiges zu wünschen übrig lässt und sie dürften sich einfach nicht genug um das Image im Ausland gekümmert haben. Die linksliberalen Parteigänger haben eine saftige Niederlage einstecken müssen und verhalten sich nun wie schlechte Verlierer, ihre Freunde und Gesinnungsgenossen im deutschsprachigen Ausland berufen sich bereitwillig und exklusiv auf diese Quellen, bei offensichtlichem Verzicht auf eigenständige Recherche. Selbstverständlich ist die Zweidrittelmehrheit unter den gegebenen Umständen problematisch und die Regierung Orbán spielt diesen Medienschaffenden auch laufend Bälle zu. Allerdings ist in Anbetracht der Tatsachen zurückzuweisen, dass die Fidesz-Partei beharrlich in die Nähe rechtsextremer Parteien gerückt wird. Die als zweitstärkste Oppositionspartei ins Parlament gewählte Jobbik entspricht am ehesten Parteien wie FPÖ, BZÖ, SVP, Flaams Belang, PVV, Wahre Finnen, Slowakische Nationalisten usw., hat allerdings auf Sicht keine Aussicht auf Regierungsbeteiligung. Fidesz ist und bleibt eine Zentrumspartei, auch wenn radikalere Stimmen mitunter bewusst von der Parteileitung toleriert werden. Insofern ist das Geschrei von einem autoritären oder gar faschistischen Staat natürlich blanker Unsinn. Viel eher haben wir mit einem System von zwei Klienturen zu tun - ähnlich wie etwas diskreter in Österreich die Großparteien, und käme Jobbik an den "Fressnapf", würde sich diese Partei ähnlich "kompetent" und "sauber" verhalten wie die Haider-Partei unter Bundeskanzler Schüssel. Auch wenn es Gründe zur Sorge und reichlich Anlass zu (sachlicher?!?) Kritik gibt, ist Ungarn nach wie vor ein demokratischer Mehrparteien-Rechtsstaat. Die öffentlich-rechtlichen Medien bringen Tag für Tag auch den Standpunkt der Opposition, wobei selbstverständlich die derzeitigen Kräfteverhältnisse in abgeschwächter Form mitberücksichtigt werden; so hat Orbán natürlich deutlich mehr Redezeit als sein ehemaliger Widerpart, der derzeit nur Anspruch auf die Vertretung eines Bruchteils der Wähler erheben kann.
In einer aufgeheizten Stimmung nehme ich zur Kenntnis, dass es Zeitgenossen gibt, die eine bedrohliche, angstmachende Atmosphäre wahrnehmen; in Anbetracht gewisser Personalentscheidungen und Umstrukturierungen ist da auch etwas dran. Man muss aber auch sehen, dass eine große Bevölkerungsmehrheit den Abgang des immer unpopuläreren Gyurcsány und danach auch der Sozialisten mit Erleichterung zur Kenntnis nahmen bzw. viele den Fidesz-Wahlsieg geradezu als Befreiung empfanden. Eine große Euphorie hab ich allerdings keine erlebt und inzwischen macht sich schon wieder eine gewisse Ernüchterung breit - die aber vorerst keine wesentliche Verschiebung in den politischen Kräfteverhältnissen bewirkt hat! Jedenfalls erleben wir hier (in meinem Umfeld) im Alltagsleben keine Einschränkungen, außer dass an allen Ecken und Enden Geld fehlt und klare Zielsetzungen und Prioritäten immer noch Mangelware sind. Die vermeintliche autoritäre Entwicklung nehmen wir so nicht wahr. Gewisse Verschiebungen in der Medienlandschaft, neue Gesichter und Bezeichnungen, ein bisschen weniger Steuern hier, bisschen mehr dort - das ist es auch schon, man gewöhnt sich rasch.

Im Detail kann all das bei Hungarian Voice nachgelesen werden. Der Blogger ist eine in Deutschland lebende Person mit familiären und beruflichen Bindungen an Ungarn, deren Sichtweise sich weitgehend mit meiner Wahrnehmung deckt. Insbesondere tut uns beiden leid, wenn ein sehr einseitiges Bild von Ungarn gezeichnet wird. Einerseits gibt es hier ganz andere Probleme als die derzeit aufgeblasenen - z.B. Armut, Strukturprobleme bis hin zu weitläufigen Umbruchs- und Zusammenbruchserscheinungen im ländlichen Raum, ein Bruch zwischen den Generationen, das Fehlen der Mittelklasse, die Krise von Pensions- und Gesundheitswesen, mangelnde Integration der Roma bis hin zu Gebieten aus denen sich die Staatsgewalt verabschiedet hat (wilder Osten - Spaß beiseite!), im Verkehrswesen negative Trends, Versäumnisse und Fehlentscheidungen, Atomkraft statt Geothermie u.a. Erneuerbare, unverantwortliche Großprojekte statt vielen Kleinkraftwerken --> mangelnde Vorbereitung auf die Energiekrise, ungesunde Strukturen in der Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie, der Ausverkauf der ungarischen Wirtschaft nach der Wende, die Spätfolgen von Trianon und die Lage der Ungarn im benachbarten Ausland, der latente Antisemitismus. Andererseits fallen positive Themen, Entwicklungen und kulturelle Werte fast ganz unter den Tisch! Dazu gäbe es derart viel zu sagen, das würde diesen Rahmen vollends sprengen.

Heute ist der 100. Geburtstag eines bemerkenswerten Politikers namens Bibó István. Er war zugleich ein Vordenker und ein auf Ausgleich bedachter Mensch. Sowohl die "Volkstümlichen" als auch die "Urbanen" berufen sich auf ihn. Er lebte unter denkbar schweren Umständen, von der Zwischenkriegszeit über den Weltkrieg mit der Machtergreifung der Nazis, dann die Machtergreifung der Kommunisten, der Stalinismus und der sowjetische Einmarsch. Anlässlich der 1956-er Revolution kam er kurzfristig zu Amt und Würden.
Es gäbe noch viel mehr zu Bibó zu sagen, zu lesen und nachzudenken als der kurze Wiki-Eintrag und leider finde ich auf Deutsch nichts Ausführlicheres. Es ist mir leid, den Eintrag nicht sorgfältig erweitern zu können - das würde noch einen Tag dauern, was sich jetzt unmöglich ausgeht (prosaischer Alltag in Ungarn :-)

Manuskript einer Ungarn-Korrespondentin - Versuch eines ausgewogenen Zugangs